NADUA

Bipolar?
Wenn man am Nordpol steht, sieht man den Südpol nicht. Und umgekehrt.

Wer immer an den Polen zu Hause ist, weiß nicht wie es ist, am Äquator zu spazieren zu gehen. Nach über zwei Jahrzehnten, in denen mich immer wieder einmal abgrundtiefe Depressionen heimsuchten, die mitunter Krankenhausaufenthalte erforderlich machten, lautete die Diagnose irgendwann „Bipolare Störung“, also manisch-depressiv. Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt hätte meine Oma gesagt. Keine Ahnung, ob sie, die Diagnose früher einmal im Raum stand, für mich jedenfalls fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen! Dass meine energiereichen Zeiten, in denen ich höchst leistungsfähig war, etwas mit Krankheit zu tun haben könnten, auf die Idee wäre ich früher nicht gekommen: in einem Jahr schaffte ich es zwischen zahlreichen Projekten zu Beginn mit Schiern Gletscher zu besteigen, um das Jahr mit einem Segeltörn in der Karibik zu beenden, daneben zwei Ausbildungen zu absolvieren, Theater zu spielen, jedes Wochenende woanders zu verbringen, immer unterwegs auf der Suche nach… Der eine oder andere Workshop war auch noch drin!

Dem Segeltörn folgte ein „Burnout“, um darauf wieder gleich weiterzumachen.

Wahrscheinlich hatte ich auch einfach Glück, denn das Pendel der Depression schlug in Richtung Manie nicht so stark aus, ich häufte keine Schulden an, kaufte nicht leichtfertig Wohnungen und Autos und war, was meine Arbeit betrifft, zuverlässig, wenn auch häufig in prekären Verhältnissen, was aber im Umfeld der Kultur- und Kreativwirtschaft nichts Außergewöhnliches ist. Genau so wenig wie Selbstausbeutung, die dank Neoliberalismus ohnehin als oberste Tugend gilt.

Überhaupt sind wir daran gewöhnt schwarz-weiß, gut-böse, schön-hässlich, also in polaren Begriffen zu denken, die Gesellschaft, oder wer auch immer schreibt vor, was richtig oder falsch zu sein hat. Dabei wäre ein integratives Denken, dass ein SOWOHL ALS AUCH zulässt, einem auf Gemeinwohl ausgerichteten Miteinander wesentlich zuträglicher.

Ich weiß es nicht genau, aber ich denke, dass wohl diese Erkenntnis für mich mit ausschlaggebend war, mich von den Polen weg zu bewegen, um mir die Vielfalt des Dazwischen anzusehen und auch einmal am Äquator spazieren zugehen. Lange hat es gedauert, bis ich das verstanden habe. Keine Ahnung, wie lange das anhalten wird, ob und wann mich vielleicht oder auch nicht wieder eine depressive Verstimmung aufsuchen wird, was sich verändert hat, ist meine Einstellung zur Krankheit: Sie hat den Schrecken verloren, sie ist Teil von mir, das wird sie immer bleiben. So wie es meine Therapeutin schon vor vielen Jahren formulierte, so wie ich es jahrelang rezitierte, ohne es wirklich in mein Leben zu integrieren: „Die Depression ist ein Freund, der Dir sagt, dass etwas in Deinem Leben nicht stimmt!“

U. | Klientin, Januar 2010